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Kindeswohl ist Maßstab für Umgangsregelung

Bundesverfassungsgericht

Beschluss vom 23.06.2022

Norm: Art. 6 Abs. 2 GG

Schlagworte:

 Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens grundrechtsrelevant, Umgangsregelung muss unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalles dem Wohl des Kindes entsprechen, zuverlässige Ermittlung des Kindeswillens erfordert Anhörung eines drei Jahre alten Kindes oder Bestellung eines Verfahrenspflegers

Redaktionelle Zusammenfassung

Der Beschwerdeführer ist Vater eines aus einer kurzen Beziehung mit der damals verheirateten Kindesmutter stammenden, im April 2006 geborenen Kindes. Die Kindesmutter, die das Kind unmittelbar nach der Geburt aussetzte, ist die alleinige Inhaberin der elterlichen Sorge mit Ausnahme des Aufenthaltsbestimmungsrechts, das dem Jugendamt übertragen wurde. Das Kind lebt in einer Pflegefamilie.

Nachdem ab Januar 2007 alle vier Wochen ein einstündiger begleiteter Umgang mit dem Vater stattgefunden hatte, beantragte dieser die Gestattung eines unbegleiteten und erweiterten Umgangs.

Diesen Antrag wies das Amtsgericht wie auch das Oberlandesgericht zurück. Ein Verfahrenspfleger wurde für das Kind nicht bestellt.

Das Bundesverfassungsgericht ist der Ansicht, dass der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Entscheidungen in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG verletzt ist.

Das Umgangsrecht des nicht sorgeberechtigten Elternteils steht ebenso wie die elterliche Sorge des anderen Elternteils unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Beide Rechtspositionen erwachsen aus dem natürlichen Elternrecht und der damit verbundenen Elternverantwortung. Das Umgangsrecht ermöglicht dem umgangsberechtigten Elternteil, sich von dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Entwicklung durch Augenschein und gegenseitige Absprache fortlaufend zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm aufrechtzuerhalten und einer Entfremdung vorzubeugen, sowie dem Liebesbedürfnis beider Teile Rechnung zu tragen. Der Elternteil, bei dem sich das Kind gewöhnlich aufhält, muss demgemäß grundsätzlich den persönlichen Umgang des Kindes mit dem anderen Elternteil ermöglichen. Entsprechendes gilt auch dann, wenn das Kind nicht bei einem Elternteil, sondern in einer Pflegefamilie lebt. Denn in der Regel entspricht es dem Kindeswohl, die familiären Beziehungen aufrechtzuerhalten und das Kind nicht vollständig von seinen Wurzeln zu trennen.

Besteht Streit über die Ausübung des Umgangsrechts, haben die Gerichte eine Entscheidung zu treffen, die sowohl die Grundrechtspositionen der Eltern als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigt.

Grundrechtsschutz ist auch durch die Gestaltung des Verfahrens sicherzustellen. Das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung geeignet und angemessen sein, um der Durchsetzung der materiellen Grundrechtspositionen wirkungsvoll zu dienen. Diesen Anforderungen werden die Gerichte nur gerecht, wenn sie sich mit den Besonderheiten des Einzelfalls auseinandersetzen, die Interessen der Eltern sowie deren Einstellung und Persönlichkeit würdigen und auf die Belange des Kindes eingehen. Der Wille des Kindes ist zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist. Voraussetzung hierfür ist, dass das Kind in dem gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit erhält, seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden zu lassen. Die Gerichte müssen ihr Verfahren deshalb so gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können.

Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sind die Fachgerichte diesen Maßstäben im vorliegenden Fall nicht gerecht geworden.

Die Ausführungen des Amtsgerichts erschöpfen sich im Wesentlichen in der allgemeinen Feststellung, dass der Junge in einer Pflegefamilie aufwachse und seine Integration in dieses Umfeld nicht gestört werden dürfe. Ob und in welchem Umfang die Umgangskontakte mit dem Beschwerdeführer und ihre etwaige Intensivierung tatsächlich zu erheblichen Störungen in der Beziehung des Kindes zu seinen Pflegeeltern führen, ist der amtsgerichtlichen Entscheidung nicht zu entnehmen.

Der Annahme des Gerichts, der vom Beschwerdeführer gewünschte unbegleitete Umgang jedes Wochenende und an Feiertagen werde der Situation des Kindes nicht gerecht und überfordere es, fehlt daher eine nachvollziehbare Begründung. Vor allem aber berücksichtigen die Ausführungen nicht, dass das Gericht nicht an den Antrag des Beschwerdeführers gebunden ist und zwischen dem bisher praktizierten begleiteten Umgang alle vier Wochen eine Stunde in der Pflegekinderstelle und dem von dem Beschwerdeführer beantragten Umgang eine Spannbreite weiterer Regelungsmöglichkeiten eröffnet ist.

Ebenso lässt die Begründung des Oberlandesgerichts eine nähere Auseinandersetzung mit der Frage vermissen, welche Umgangsregelung das Wohl des Kindes konkret erfordert und weshalb ein gegenüber der bisherigen Praxis erweiterter Umgang in jedem Fall dem Kindeswohl nicht mehr gerecht werden würde.

Auch das von beiden Gerichten gewählte Verfahren war nicht geeignet, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen. Die Frage, ob eine zeitliche Intensivierung des bislang praktizierten Umgangs oder ein Übergang zum unbetreuten Umgang mit dem Kindeswohl vereinbar ist oder nicht, erfordert eine möglichst zuverlässige Ermittlung auch des Willens des Kindes. Diesen Willen hätten die Gerichte durch eine Anhörung des bereits im Zeitpunkt der amtsgerichtlichen Entscheidung drei Jahre alten Kindes, zumindest aber durch einen dem Kind bestellten Verfahrenspfleger in Erfahrung bringen können.

Diese Entscheidung im Original nachlesen

http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20100714_1bv…